… und wieso jetzt der richtige Zeitpunkt für mehr Nachhaltigkeit ist.
Die Corona-Krise markiert die schwerste Krise für den Tourismus seit dem zweiten Weltkrieg. Nie hat dieser Wirtschaftszweig stärker um seine Zukunft kämpfen müssen, wie in diesen knapp 18 Monaten. Dennoch dürfen wir uns nicht täuschen: Die Branche, die allein in Deutschland in ihrer ganzen Breite rund 3 Millionen Menschen Arbeit gibt und in vielen Regionen ein zentraler Wohlstandsfaktor ist, stünde auch ohne Corona vor enormen Herausforderungen. Die aktuelle Krise hat dies ad hoc offengelegt und deshalb bietet sie neben all den Verheerungen vielleicht auch eine Chance, die Möglichkeit zum Aufbruch in eine neue Zeit, resilienter und zukunftsfähiger als je zuvor. Gerade die deutsche Tourismuswirtschaft hat gute Fundamente, um diese Herausforderungen zu bewältigen, wenn sie jetzt die richtigen Schlüsse aus den multiplen Krisen der letzten Jahre zieht. Kein „Zurück zu vor der Krise“, sondern der Aufbruch zu neuer Stärke und neuen Zielen, das muss die Devise sein.
Es geht um viel für ganze Branchen, ganze Regionen, die vom Tourismus leben: Neueste Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen die hohe Bedeutung des Tourismus für und in Deutschland. Auch wenn die Krisenjahre noch nicht abgebildet werden, zeigen die Zahlen deutlich, wie wichtig Tourismus und Reisen für die deutsche Wirtschaft und vor allem viele Regionen sind! 6,1% (2,8 Mill.) der gesamten Erwerbstätigen im Inland (!) sind hier in normalen Zeiten beschäftigt. Im Jahr 2019 erhielt der Staat Einnahmen mit möglichem Tourismusbezug über laufende Steuern in Höhe von 49,5 Mrd. EUR, was 3,1% der Gesamteinnahmen und 6% der laufenden Steuereinnahmen entspricht, ca. 247,0 Mrd. EUR wurden 2019 für touristischen Konsum ausgegeben bei einer Bruttowertschöpfung von 356,7 Mrd. EUR! Kein Wunder, dass bei vielen Akteuren die Sehnsucht nach einer Rückkehr zum Status quo vor der Krise groß ist.
Zurück zum Status quo ante?
So einfach wird das nicht sein. Eine Rückkehr zum „alten Normal“ würde nur kurzzeitig Freude auslösen.Denn allein die Klimakrise wird das Reisen und auch unsere Regionen extrem verändern: Die teils bereits erkennbare Veränderung des Klimas bedroht schon heute den Tourismusstandort Deutschland und damit nicht weniger als über 100 Milliarden Euro Wertschöpfung in den Destinationen. Sichtbar wird das drastisch in den von Starkregen und Hochwasser betroffenen Regionen wie dem Ahrtal aber auch in kleinen Schritten etwa in Skigebieten der Mittel- und Hochgebirge, in denen im Winter nicht mehr verlässlich Schnee fällt und damit einen wichtigen Standortfaktor beeinträchtigt. ExpertInnen gehen beispielsweise davon aus, dass sich die Dauer der jährlichen Schneedecke um sechs bis neun Wochen verkürzen wird, was massive Auswirkungen für die Rentabilität von Skigebieten haben wird. Eine höhere Schneewahrscheinlichkeit wird es nur noch in wenigen alpinen Regionen in Deutschland geben, eine Schneegarantie gibt perspektivisch nirgendwo mehr. Deshalb ist die tiefe Krise durch Corona auch ein guter Zeitpunkt, die Anpassungsprozesse an den Klimawandel zu beschleunigen.
Wie machen wir die Tourismuswirtschaft resilienter?
Hinzu kommt: Der Fachkräftemangel bedroht oft heute schon die Leistungsfähigkeit der Unternehmen vor Ort, was die Corona-Krise noch deutlich verschlimmert hat, weil viele Fachkräfte in andere Branchen abgewandert sind, die weniger hart von den Schließungen der Lockdowns betroffen waren. Hier braucht es eine adäquate Strategie, die im höchsten Maße über die Zukunftsfähigkeit des Tourismusstandortes entscheiden wird. Ein hochklassiger Standort braucht gut ausgebildete, motivierte und auch zufriedene Gastgeber*innen. Dafür braucht es gute Rahmenbedingungen und vielleicht auch eine neue Erzählung über das Arbeiten in der Tourismuswirtschaft.
Jetzt die Chancen nutzen und mit Perspektive aus der Krise
Für viele Geschäftsmodelle und Regionen lauern allein in diesen beiden Entwicklungen bereits viele existenzielle Gefahren. Man muss also dringlich die Frage stellen, wie unsere Tourismuslandschaft in Deutschland morgen aussehen soll! Das Verbraucher- und damit auch Reiseverhalten wird sich z. B. durch die Klimakrise, soziale Veränderungen und etwa Bewegungen wie Fridays for Future weiter verändern. Was benötigt die Reisewirtschaft der Zukunft also und wie können wir Tourismus so gestalten, dass er für Reisende, Bereiste und Regionen nachhaltig ist, ökonomisch, ökologisch und sozial? Echte Nachhaltigkeit bietet gerade für den Tourismusstandort Deutschland riesige Chancen. Wir haben jetzt die Möglichkeit, mit einer Nachhaltigkeitsagenda aus der Krise zu gehen und dabei dem Standort entscheidende Wettbewerbsvorteile mit auf den Weg zu geben. Wir müssen für die Zeit nach dieser schrecklichen Pandemie für die Tourismuswirtschaft einen Zukunftspfad beschreiben, der trägt. Das sind wir den Zukunftschancen vieler Menschen und Regionen aber auch dem Klima schlicht schuldig.
Tourismus ist ein Querschnittsthema von A wie Arbeitskräfte über F wie Förderung, K wie Klimaschutz bis Z wie Zugverbindung mit vielen Akteuren. Auch diese thematische Heterogenität hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass die Tourismuswirtschaft nicht die notwendige Wahrnehmung bekommen hat. Tourismus ist seit Jahren fast kein wahrnehmbares Thema auf der politischen Bühne. Allenfalls bei Fragen des Verbraucherschutzes gab es in der Vergangenheit politische Aufmerksamkeit, selten positiv konnotiert. Während die Autoindustrie im Kanzleramt ein und aus ging, blieb der Tourismus weitgehend außen vor, auch in der Corona-Krise war das erkennbar.
Aufbruch organisieren, in Politik und Wirtschaft
Umso wichtiger wäre es jetzt, alle Stakeholder im nationalen Maßstab an einen Tisch in einen gemeinsamen, umsetzungsorientierten Zukunftsprozess zu holen. Es wird jedenfalls nicht ausreichen, die Verantwortung hin und her zu schieben.
Vorausschauen und vorangehen ist die Devise. Wir brauchen eine Förderpolitik, die umwelt- und klimafreundliche Konzepte unterstützt! Und wir brauchen eine Förderpolitik, die einen einfachen und unkomplizierten Zugang zu Geld, Innovation und Knowhow verspricht. Im Sinne der Klimaziele ist es maßgeblich, dass die Mobilität von Grund auf neu gedacht wird, auch innerhalb der Destinationen müssen nachhaltige Mobilitätangebote ausgebaut werden. Damit ein umfänglicher Umbau der europäischen Tourismuswirtschaft glückt, benötigen Städte und vor allem strukturschwache Regionen auf dem Land finanzielle Unterstützung im Umbau hin zu Geschäftsmodellen, die mit den Klima‑, Umwelt‑, Ressourcen- und Biodiversitätszielen im Einklang stehen und eine ressourcenschonende Kreislaufwirtschaft voranbringen. Viele Themen warten auf eine Bearbeitung im nationalen und europäischen Maßstab.
Nachhaltigkeit bringt mehrfach Gewinn
Aber nicht nur die Politik muss sich bewegen. Auch die Unternehmen, die Leistungsträger, für die es oft jahrzehntelang nur bergauf ging, die von einem Buchungs- zum nächsten Übernachtungsrekord eilten, müssen sich an die Herausforderungen anpassen. Klimaschutz und gesellschaftliche Verantwortung sind nicht nur Marketing-Begriffe, wie es viele früher annahmen, sondern sie müssen glaubhaft in der Unternehmensstrategie umgesetzt werden. Bewusstseinswandel und der Wunsch nach Transparenz bei den meisten Verbraucher*innen erhöht weiter den Druck.
Vor dem Hintergrund des voranschreitenden Klimawandels ist echte Nachhaltigkeit aber auch ein wichtiger Beitrag zum Erhalt des Geschäftsmodells: Keine Branche ist so sehr auf eine intakte Umwelt angewiesen, wie die Tourismuswirtschaft. Die Unternehmen, die inhaltlich vorangehen und dies erkennbar und nachvollziehbar machen, können aus dieser Position Vorteile generieren. Sie demonstrieren gesellschaftliche Kompetenz und Anschlussfähigkeit an neue Lebens‑, Wirtschafts- und z. B. auch Arbeitsstile und gewinnen dadurch Glaubwürdigkeit.
Eine nationale Tourismusstrategie, die den Namen verdient
Der Versuch eine nationale Tourismusstrategie zu erarbeiten, ist in der vergangenen Wahlperiode, auch aber nicht nur wegen Corona, weitgehend steckengeblieben, der so dringend benötigte große Wurf blieb aus. Jetzt, am hoffentlich baldigen Ausgang der Corona-Krise und im Prozess der Bildung einer neuen Bundesregierung, ist der richtige Zeitpunkt, um auch für die Tourismuspolitik einen neuen Aufbruch zu wagen: Deutschland braucht jetzt eine nationale Tourismusstrategie, die die großen Herausforderungen auf- und die zahlreichen Akteure mitnimmt: Klima, Arbeit, Fachkräftemangel, Digitalisierung, Innovation! Das sind Themen, die auf der nationalen Ebene jetzt mit großem Ernst und gleichzeitiger Innovationsfreude dringlich bearbeitet werden müssen. Die neue Bundesregierung sollte sich diesen Fragen offensiver stellen als ihre Vorgänger, die Branche geeinter an den gemeinsamen Zielen arbeiten als in der Vergangenheit.
Sortiert und geeint den Kraftakt angehen
Jetzt ist der Zeitpunkt, Tourismuswirtschaft und Tourismusstandort fit für die Zukunft zu machen. Dazu müssen die wichtigen Stakeholder gemeinsam die Agenda entwickeln und gestalten. Politik und Tourismuswirtschaft müssen einen Weg finden, der mehr ist als die Fortschreibung des Status quo ante. Dazu ist die Lage nach Corona und mitten in der Klimakrise viel zu kompliziert.
Die von der Bundesregierung angekündigte „Nationale Plattform Zukunft des Tourismus“, die sich den großen, übergreifenden Themen in konkreten Arbeitsgruppen widmet und die tourismuspolitisches Regierungshandeln vier Jahre begleiten wird, ist ein echter Fortschritt und endlich das Signal, dass nicht nur die Automobilindustrie wichtig für Deutschland ist, sondern auch die drei Millionen Beschäftigte in der Tourismuswirtschaft und die Tourismusregionen politisches Gehör finden. Das wäre auch im Hinblick auf die Schaffung von gleichwertigen Lebensverhältnissen in ländlichen Regionen ein wichtiger Schritt. Die neue Bundesregierung könnte damit ein erkennbares Aufbruchssignal geben, auch für viele Regionen. Und sie könnte auch für die Branche eine Plattform schaffen, auf der Gemeinsamkeit wenigstens in den ganz großen, elementaren Fragen für die Zukunft der Tourismuswirtschaft hergestellt werden könnte.
Zum Autor:
Markus Tressel (44) war 12 Jahre, von 2009 bis 2021, Tourismus- und Regionalpolitikexperte der Grünen-Bundestagsfraktion und 4 Jahre Landesvorsitzender der Grünen im Saarland. Tressel hat bei der letzten Bundestagswahl im September 2021 nach über 20 Jahren in der Politik nicht mehr kandidiert um sich neuen Aufgaben an der Schnittstelle von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zuzuwenden. Der Tourismusexperte hat Ende Oktober das auf Nachhaltigkeit und neue gesellschaftliche Allianzen fokussierte Analyse‑, Strategie- und Kommunikationsunternehmen TREPUBLICA GmbH mitgegründet.
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