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Analyse

Wir wollen unsere Stammtische zurück

Die Stim­mung in Deutsch­land ist auf­ge­heizt. Spa­zier­gän­ger tref­fen sich regel­mä­ßig in klei­nen und großen Städ­ten, um abwech­selnd gegen die Coro­na­maß­nah­men oder gegen die Impf­pflicht oder gegen beides zu demonstrieren.

Das ist grund­sätz­lich in Deutsch­land kein Pro­blem. Wir leben schließ­lich in einem Rechts­staat, in dem “Indi­vi­du­en bestimm­te unver­brüch­li­che Grund­rech­te zuste­hen und staat­li­chem Han­deln bestimm­te Gren­zen gesetzt sind.”[I]

Diese Gren­zen gelten grund­sätz­lich für jede*n. Auch für die Kli­ma­ak­ti­vis­ten, die sich an der Fahr­bahn von Auto­bahn­auf­fahr­ten oder Flug­ha­fen­zu­fahr­ten ankle­ben, um so für ihre Anlie­gen zu protestieren.

Was ruft diese Ver­hal­tens­wei­sen – sowohl das von denen, die sich gerne bewe­gen, als auch das von denen, die sich gerne fest­kle­ben – hervor? Unver­ständ­nis bei den einen und Applaus bei den ande­ren. Man kann sich des Ein­dru­ckes nicht erweh­ren, dass sich die Deut­schen immer unver­söhn­li­cher gegen­über­ste­hen. Team Vor­sicht vs. Team Öff­nung (die CSU in Bayern kann schein­bar beides) oder, wenn die Pan­de­mie vor­über sein wird, Team Kli­ma­schutz vs. Team Klimawandelleugner.

Dieser Ein­druck kann natür­lich auch täu­schen, denn sicher­lich sind min­des­tens 75% der Bevöl­ke­rung in Deutsch­land geimpft und von den 20 Mil­lio­nen Unge­impf­ten gehen viel­leicht 100.000 bei “Mon­days against Coro­na­maß­nah­men” spa­zie­ren. Ebenso ist es mit den Kli­ma­schüt­zern und den Men­schen, die bei “Fri­days for Future” spa­zie­ren gehen. Von denen kleben sich wahr­schein­lich die wenigs­ten fest, schon gar nicht auf der Straße.

Was klar zu erken­nen ist: Es wird weni­ger mit­ein­an­der als über­ein­an­der gespro­chen und das geschieht im World Wide Web noch dazu in einer atem­be­rau­ben­den Geschwin­dig­keit. Das liegt wohl auch an der Bil­dung von Fil­ter­bla­sen und der Suche nach Bestä­ti­gung in Form von “Daumen hoch”, “Herzen” und, wenn es gut läuft, durch unter­stüt­zen­de Kom­men­ta­re von Gleich­ge­sinn­ten. Ob die “Freun­de” und “Fol­lower” real sind oder es sich “nur” um Social Bots han­delt, inter­es­siert das Beloh­nungs­sys­tem im mensch­li­chen Gehirn in sol­chen Momen­ten wenig.

Was hat das aber nun alles mit den im Titel erwähn­ten Stamm­ti­schen zu tun und warum über­haupt der Titel “Wir wollen unsere Stamm­ti­sche zurück”? Schließ­lich gab und gibt es doch auch an den Stamm­ti­schen hit­zi­ge Dis­kus­sio­nen; und dass die Stamm­ti­sche auch nicht den besten Ruf haben, zeigt sich sprach­lich an Wör­tern wie “Stamm­tisch­ni­veau”, “Stamm­tisch­pa­ro­len” und ‘Stamm­tisch­po­li­tik”. Warum sollte die Off­line-Kom­mu­ni­ka­ti­on im Wirts­haus also erstre­bens­wer­ter sein als ein ver­ba­ler Schlag­ab­tausch bei Face­book oder Twitter?

Die ety­mo­lo­gi­sche Wort­be­deu­tung des Begrif­fes “Kom­mu­ni­ka­ti­on” oder “kom­mu­ni­zie­ren” ist vom latei­ni­schen Verb com­mu­ni­ca­re abge­lei­tet, was so viel bedeu­tet wie ‘teilen’, ‘mit­tei­len’, ‘teil­neh­men lassen’; ‘gemein­sam machen’, ‘ver­ei­ni­gen’. “In dieser ursprüng­li­chen Bedeu­tung ist eine Sozi­al­hand­lung gemeint, in die meh­re­re Men­schen ein­be­zo­gen sind. Wesent­li­che Aspek­te dieser Sozi­al­hand­lung sind zum einen ‘Anre­gung und Voll­zug von Zei­chen­pro­zes­sen’ und zum ande­ren ‘Teil­ha­be’, in der etwas ‘als etwas Gemein­sa­mes’ ent­steht.”[II]

Der Phi­lo­soph Jürgen Haber­mas unter­schei­det weiter zwi­schen ver­stän­di­gungs­ori­en­tier­ter und erfolgs­ori­en­tier­ter (stra­te­gi­scher) Kom­mu­ni­ka­ti­on.[III] Für Haber­mas ist die Ver­ständ­nis­ori­en­tie­rung der betei­lig­ten Kom­mu­ni­ka­to­ren wich­tig für unver­fälsch­tes kom­mu­ni­ka­ti­ves Han­deln. Ver­stän­di­gung ist hier aber mehr als nur das gegen­sei­ti­ge Ver­ste­hen. Es ist viel­mehr die sprach­li­che Abstim­mung und Eini­gung zwi­schen zwei oder meh­re­ren Per­so­nen mit dem Ziel, ein Ein­ver­ständ­nis im Hin­blick auf ein bestimm­tes Hand­lungs­ziel oder eine Ein­stel­lung zu errei­chen.[IV]

Kommen wir nun zurück zum Stamm­tisch. Die Defi­ni­ti­on aus Wiki­pe­dia dazu lautet: “Ein Stamm­tisch ist sowohl eine Gruppe von meh­re­ren Per­so­nen, die sich regel­mä­ßig in einem Lokal trifft, als auch der meist grö­ße­re, runde Tisch, um den sich diese Gruppe ver­sam­melt. Im Mit­tel­punkt dieser Stamm­tisch­run­den stehen oft das gesel­li­ge Zusam­men­sein, Kar­ten­spiel und poli­ti­sche oder phi­lo­so­phi­sche Dis­kus­sio­nen. Dem Stamm­tisch wird oft eine ver­ein­fa­chen­de, undif­fe­ren­zier­te Argu­men­ta­ti­ons­wei­se unter­stellt, für die sich [wie bereits erwähnt] Begrif­fe wie Stamm­tisch­pa­ro­le, Stamm­tisch­po­li­tik und Stamm­tisch­ni­veau eta­bliert haben, die meta­pho­risch auch für poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Dis­kus­sio­nen außer­halb realer Stamm­ti­sche ver­wen­det werden.”[V]

Wenn man nun bedenkt, dass bei Kom­mu­ni­ka­ti­on etwas Gemein­sa­mes ent­ste­hen soll und dafür ein gegen­sei­ti­ges Ver­ständ­nis vor­aus­ge­setzt wird, ist der Stamm­tisch defi­ni­tiv der bes­se­re Platz, um eine ver­ständ­nis­ori­en­tier­te Kom­mu­ni­ka­ti­on zu initiieren.

In der Ana­ly­se ver­ständ­nis­ori­en­tier­ter Kom­mu­ni­ka­ti­on iden­ti­fi­ziert Haber­mas vier Grund­be­din­gun­gen, die immer erfüllt sein müssen, wenn ein wahrer Kon­sens zwi­schen zwei (oder meh­re­ren) Kom­mu­ni­zie­ren­den erreicht werden soll. Solche Regeln bezeich­net Haber­mas als uni­ver­sel­le Gel­tungs­an­sprü­che. Die vier Grund­be­din­gun­gen sind: der “Anspruch auf Ver­ständ­lich­keit”, der “Anspruch auf die Wahr­heit” und “die Wahr­haf­tig­keit” und der “Anspruch auf die Richtigkeit”.

Ver­ständ­lich­keits­an­spruch: Die “Kom­mu­ni­ka­ti­ons­part­ner müssen sich seman­tisch und syn­tak­tisch ver­ständ­lich aus­drü­cken”.[VI]

Hier hat der Stamm­tisch klar einen Vor­teil. Wenn der Gesprächs­part­ner etwas nicht ver­steht, eine Frage oder Anre­gung hat, wird in aller Regel sofort interveniert.

Wahr­heits­an­spruch (Zustim­mungs­fä­hig­keit): Die “Kom­mu­ni­ka­ti­ons­part­ner müssen wahr­heits­ge­mäß über etwas spre­chen, dessen Exis­tenz beide vor­aus­set­zen”.[VII]

Dem Sprich­wort zufol­ge haben Lügen bekannt­lich kurze Beine. Die Beine des Gegen­übers sieht man unter dem Stamm­tisch in der Regel zwar nicht – außer man hat zu viel über den Durst getrun­ken und kippt vom Stuhl –, dafür kann man beim Gesprächs­part­ner aber auf andere Signa­le achten. Auch wenn die Nase – anders als im Mär­chen von Pinoc­chio – beim Lügen nicht länger wird, können uns Mimik und Gestik den­noch viel über die Inten­tio­nen unse­res Gegen­übers verraten.

Wahr­haf­tig­keits­an­spruch (Sub­jek­ti­vi­tät): Die “Kom­mu­ni­ka­ti­ons­part­ner müssen alle inter­per­so­na­len Bezie­hun­gen (z.B. Macht- und Abhän­gig­keits­ver­hält­nis­se) sowie Inten­tio­nen nicht nur wahr­heits­ge­mäß, son­dern auch auf­rich­tig offen­le­gen”![VIII]

Da man sich am Stamm­tisch meis­tens per­sön­lich kennt, wird es da sehr schwie­rig werden, sein wahres ICH zu verstellen.

Rich­tig­keits­an­spruch (Nor­ma­ti­vi­tät): Die “Kom­mu­ni­ka­ti­ons­part­ner müssen Normen und Werte des sozia­len Bezugs­sys­tems aner­ken­nen und das beim Gegen­über vor­aus­set­zen können”.[IX]

Das lässt sich am Stamm­tisch besser über­prü­fen als im World Wide Web.

Im Gegen­satz zu der ver­ständ­nis­ori­en­tier­ten Kom­mu­ni­ka­ti­on nennt Haber­mas erfolgs­ori­en­tier­tes sozia­les Han­deln stra­te­gisch. Min­des­tens ein Kom­mu­ni­ka­tor ver­folgt durch sein Han­deln einen Plan, um einen stra­te­gi­schen Vor­teil zu erlan­gen. Und hier wären wir wieder bei den sozia­len Medien. Wer steckt hinter dem Pro­fil­na­men “mausebärchen1979”? Was will Mau­se­bär­chen mit dem Post bezwe­cken? Gibt es Mau­se­bär­chen überhaupt?

Was wir (wieder mehr) brau­chen, ist ein ehr­li­cher, ver­trau­ens­vol­ler und authen­ti­scher Dialog, den wir in den Social-Media-Zeiten ein Stück weit ver­lernt zu haben schei­nen. Ein Blick auf den Stamm­tisch – in seiner Funk­ti­on als sozia­ler Treff­punkt und Diskussions-“Plattform” – und in die Haber­mas­sche “Theo­rie des kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns” kann uns hier also durch­aus wei­ter­hel­fen. Ange­sichts der großen Her­aus­for­de­run­gen unse­rer Tage brau­chen wir mehr denn je einen ehr­li­chen und frucht­ba­ren Dialog nicht nur zwi­schen zwei Kom­mu­ni­ka­ti­ons­part­nern, son­dern vor allem zwi­schen Poli­tik, Gesell­schaft und Unter­neh­men. Und jede Stamm­tisch­pa­ro­le kann Anlass zum ehr­li­chen Dis­kurs sein.

Hit­zi­ge Dis­kus­sio­nen gab es schon immer. Nur Feinde wurden daraus selten.


[I]     Schu­bert, Klaus/Martina Klein: Das Poli­tik­le­xi­kon. 7., aktual. u. erw. Aufl. Bonn: Dietz 2020. Lizenz­aus­ga­be Bonn: Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bildung.)

[II]    Quelle: Kom­mu­ni­ka­ti­on. In: Wiki­pe­dia, Die freie Enzy­klo­pä­die. Bear­bei­tungs­stand: 02.07.2021, 14:29 UTC. <https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kommunikation&oldid=213490239>.

[III]    Haber­mas, Jürgen (1981): Theo­rie des kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns (Bd. 1: Hand­lungs­ra­tio­na­li­tät und gesell­schaft­li­che Ratio­na­li­sie­rung, Bd. 2: Zur Kritik der funk­tio­na­lis­ti­schen Ver­nunft). Frank­furt am Main: Suhrkamp.

[IV]    Vgl. ebd., p. 41.

[V] Quelle: Stamm­tisch. In: Wiki­pe­dia, Die freie Enzy­klo­pä­die. Bear­bei­tungs­stand: 06.12.2021, 09:37 UTC. <https://de.wikipedia.org/wiki/Stammtisch>.

[VI]    Sche­ufe­le, Bert­ram (2007): Kom­mu­ni­ka­ti­on und Medien: Grund­be­grif­fe, Theo­rien und Kon­zep­te. In: Piwin­ger, Manfred/Zerfaß, Ansgar (edd.): Hand­buch Unter­neh­mens­kom­mu­ni­ka­ti­on. Wies­ba­den: Gabler, p. 89–122, hier p. 99.

[VII]   Ebd.

[VIII]   Ebd.

[IX]    Ebd.