Wir wollen unsere Stammtische zurück

Wir wollen unsere Stammtische zurück

13.04.2022

Abstract

Die Stimmung in Deutschland ist aufgeheizt. Spaziergänger treffen sich regelmäßig in kleinen und großen Städten, um abwechselnd gegen die Coronamaßnahmen oder gegen die Impfpflicht oder gegen beides zu demonstrieren.

Das ist grundsätzlich in Deutschland kein Problem. Wir leben schließlich in einem Rechtsstaat, in dem “Individuen bestimmte unverbrüchliche Grundrechte zustehen und staatlichem Handeln bestimmte Grenzen gesetzt sind.”[I]

Diese Grenzen gelten grundsätzlich für jede*n. Auch für die Klimaaktivisten, die sich an der Fahrbahn von Autobahnauffahrten oder Flughafenzufahrten ankleben, um so für ihre Anliegen zu protestieren.

Was ruft diese Verhaltensweisen – sowohl das von denen, die sich gerne bewegen, als auch das von denen, die sich gerne festkleben – hervor? Unverständnis bei den einen und Applaus bei den anderen. Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass sich die Deutschen immer unversöhnlicher gegenüberstehen. Team Vorsicht vs. Team Öffnung (die CSU in Bayern kann scheinbar beides) oder, wenn die Pandemie vorüber sein wird, Team Klimaschutz vs. Team Klimawandelleugner.

Dieser Eindruck kann natürlich auch täuschen, denn sicherlich sind mindestens 75% der Bevölkerung in Deutschland geimpft und von den 20 Millionen Ungeimpften gehen vielleicht 100.000 bei “Mondays against Coronamaßnahmen” spazieren. Ebenso ist es mit den Klimaschützern und den Menschen, die bei “Fridays for Future” spazieren gehen. Von denen kleben sich wahrscheinlich die wenigsten fest, schon gar nicht auf der Straße.


Was klar zu erkennen ist: Es wird weniger miteinander als übereinander gesprochen und das geschieht im World Wide Web noch dazu in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Das liegt wohl auch an der Bildung von Filterblasen und der Suche nach Bestätigung in Form von “Daumen hoch”, “Herzen” und, wenn es gut läuft, durch unterstützende Kommentare von Gleichgesinnten. Ob die “Freunde” und “Follower” real sind oder es sich “nur” um Social Bots handelt, interessiert das Belohnungssystem im menschlichen Gehirn in solchen Momenten wenig.

Was hat das aber nun alles mit den im Titel erwähnten Stammtischen zu tun und warum überhaupt der Titel “Wir wollen unsere Stammtische zurück”? Schließlich gab und gibt es doch auch an den Stammtischen hitzige Diskussionen; und dass die Stammtische auch nicht den besten Ruf haben, zeigt sich sprachlich an Wörtern wie “Stammtischniveau”, “Stammtischparolen” und ‘Stammtischpolitik”. Warum sollte die Offline-Kommunikation im Wirtshaus also erstrebenswerter sein als ein verbaler Schlagabtausch bei Facebook oder Twitter?

Die etymologische Wortbedeutung des Begriffes “Kommunikation” oder “kommunizieren” ist vom lateinischen Verb communicare abgeleitet, was so viel bedeutet wie ‘teilen’, ‘mitteilen’, ‘teilnehmen lassen’; ‘gemeinsam machen’, ‘vereinigen’. “In dieser ursprünglichen Bedeutung ist eine Sozialhandlung gemeint, in die mehrere Menschen einbezogen sind. Wesentliche Aspekte dieser Sozialhandlung sind zum einen ‘Anregung und Vollzug von Zeichenprozessen’ und zum anderen ‘Teilhabe’, in der etwas ‘als etwas Gemeinsames’ entsteht.”[II]

Der Philosoph Jürgen Habermas unterscheidet weiter zwischen verständigungsorientierter und erfolgsorientierter (strategischer) Kommunikation.[III] Für Habermas ist die Verständnisorientierung der beteiligten Kommunikatoren wichtig für unverfälschtes kommunikatives Handeln. Verständigung ist hier aber mehr als nur das gegenseitige Verstehen. Es ist vielmehr die sprachliche Abstimmung und Einigung zwischen zwei oder mehreren Personen mit dem Ziel, ein Einverständnis im Hinblick auf ein bestimmtes Handlungsziel oder eine Einstellung zu erreichen.[IV]

Kommen wir nun zurück zum Stammtisch. Die Definition aus Wikipedia dazu lautet: “Ein Stammtisch ist sowohl eine Gruppe von mehreren Personen, die sich regelmäßig in einem Lokal trifft, als auch der meist größere, runde Tisch, um den sich diese Gruppe versammelt. Im Mittelpunkt dieser Stammtischrunden stehen oft das gesellige Zusammensein, Kartenspiel und politische oder philosophische Diskussionen. Dem Stammtisch wird oft eine vereinfachende, undifferenzierte Argumentationsweise unterstellt, für die sich [wie bereits erwähnt] Begriffe wie ‘Stammtischparole’, ‘Stammtischpolitik’ und ‘Stammtischniveau’ etabliert haben, die metaphorisch auch für politische und gesellschaftliche Diskussionen außerhalb realer Stammtische verwendet werden.”[V]

Wenn man nun bedenkt, dass bei Kommunikation etwas Gemeinsames entstehen soll und dafür ein gegenseitiges Verständnis vorausgesetzt wird, ist der Stammtisch definitiv der bessere Platz, um eine verständnisorientierte Kommunikation zu initiieren.

In der Analyse verständnisorientierter Kommunikation identifiziert Habermas vier Grundbedingungen, die immer erfüllt sein müssen, wenn ein wahrer Konsens zwischen zwei (oder mehreren) Kommunizierenden erreicht werden soll. Solche Regeln bezeichnet Habermas als universelle Geltungsansprüche. Die vier Grundbedingungen sind: der “Anspruch auf Verständlichkeit”, der “Anspruch auf die Wahrheit” und “die Wahrhaftigkeit” und der “Anspruch auf die Richtigkeit”.

Verständlichkeitsanspruch: Die “Kommunikationspartner müssen sich semantisch und syntaktisch verständlich ausdrücken”.[VI]

Hier hat der Stammtisch klar einen Vorteil. Wenn der Gesprächspartner etwas nicht versteht, eine Frage oder Anregung hat, wird in aller Regel sofort interveniert.

Wahrheitsanspruch (Zustimmungsfähigkeit): Die “Kommunikationspartner müssen wahrheitsgemäß über etwas sprechen, dessen Existenz beide voraussetzen”.[VII]

Dem Sprichwort zufolge haben Lügen bekanntlich kurze Beine. Die Beine des Gegenübers sieht man unter dem Stammtisch in der Regel zwar nicht – außer man hat zu viel über den Durst getrunken und kippt vom Stuhl –, dafür kann man beim Gesprächspartner aber auf andere Signale achten. Auch wenn die Nase – anders als im Märchen von Pinocchio – beim Lügen nicht länger wird, können uns Mimik und Gestik dennoch viel über die Intentionen unseres Gegenübers verraten.

Wahrhaftigkeitsanspruch (Subjektivität): Die “Kommunikationspartner müssen alle interpersonalen Beziehungen (z.B. Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse) sowie Intentionen nicht nur wahrheitsgemäß, sondern auch aufrichtig offenlegen”![VIII]

Da man sich am Stammtisch meistens persönlich kennt, wird es da sehr schwierig werden, sein wahres ICH zu verstellen.

Richtigkeitsanspruch (Normativität): Die “Kommunikationspartner müssen Normen und Werte des sozialen Bezugssystems anerkennen und das beim Gegenüber voraussetzen können”.[IX]

Das lässt sich am Stammtisch besser überprüfen als im World Wide Web.

Im Gegensatz zu der verständnisorientierten Kommunikation nennt Habermas erfolgsorientiertes soziales Handeln strategisch. Mindestens ein Kommunikator verfolgt durch sein Handeln einen Plan, um einen strategischen Vorteil zu erlangen. Und hier wären wir wieder bei den sozialen Medien. Wer steckt hinter dem Profilnamen “mausebärchen1979”? Was will Mausebärchen mit dem Post bezwecken? Gibt es Mausebärchen überhaupt?

Was wir (wieder mehr) brauchen, ist ein ehrlicher, vertrauensvoller und authentischer Dialog, den wir in den Social-Media-Zeiten ein Stück weit verlernt zu haben scheinen. Ein Blick auf den Stammtisch – in seiner Funktion als sozialer Treffpunkt und Diskussions-“Plattform” – und in die Habermassche “Theorie des kommunikativen Handelns” kann uns hier also durchaus weiterhelfen. Angesichts der großen Herausforderungen unserer Tage brauchen wir mehr denn je einen ehrlichen und fruchtbaren Dialog nicht nur zwischen zwei Kommunikationspartnern, sondern vor allem zwischen Politik, Gesellschaft und Unternehmen. Und jede Stammtischparole kann Anlass zum ehrlichen Diskurs sein.

Hitzige Diskussionen gab es schon immer. Nur Feinde wurden daraus selten.

[I]     Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 7., aktual. u. erw. Aufl. Bonn: Dietz 2020. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.)

[II]    Quelle: Kommunikation. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 02.07.2021, 14:29 UTC. <https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kommunikation&oldid=213490239>.

[III]    Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[IV]    Vgl. ebd., p. 41.

[V] Quelle: Stammtisch. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 06.12.2021, 09:37 UTC. <https://de.wikipedia.org/wiki/Stammtisch>.

[VI]    Scheufele, Bertram (2007): Kommunikation und Medien: Grundbegriffe, Theorien und Konzepte. In: Piwinger, Manfred/Zerfaß, Ansgar (edd.): Handbuch Unternehmenskommunikation. Wiesbaden: Gabler, p. 89–122, hier p. 99.

[VII]   Ebd.

[VIII]   Ebd.

[IX]    Ebd.

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